Gastbeitrag

Veröffentlicht am 15.08.2010 in Service

Aus der Regionalgeschichte der Arbeiterbewegung:
Ein politischer Mord in Hohen Neuendorf 1906

Im September 1906 fand im Organisationsbereich der Sozialdemokratie des Reichstagswahlkreises Niederbarnim ein „Zahlabend“ statt, eine Sitzung also vergleichbar mit einer Zusammenkunft einer Basisorganisation der LINKEN bzw. mit einer Ortsvereinssitzung der SPD, richtet man den Blick auf die Erben der historischen revolutionären Sozialdemokratie. Doch diese Versammlung ging nicht wie jede andere Zusammenkunft zu Ende. Auf dem Rückweg wurde der sozialdemokratische „Bezirksführer“, vergleichbar einem Ortsvorsitzenden, der Arbeiter Adolf Hermann, von dem Gendarmen Jude durch Schüsse tödlich verletzt. Die Sozialdemokraten des Niederbarnim, repräsentiert von ihrem Reichtagsabgeordneten und ehemaligen Rechtsanwalt Arthur Stadthagen, strengten umgehend einen Prozess gegen den Todesschützen aus den Reihen der Polizei an. Dieser endete jedoch, wie zu Zeiten der kaiserlichen Klassenjustiz kaum anders zu erwarten, mit dem Freispruch des angeklagten Polizisten.
Diese Ermordung ihres Mitglieds und Funktionärs Adolf Hermann in Hohen Neuendorf gab den Sozialisten alljährlich Anlass zu einer am Tatort stattfindenden Gedenkversammlung. Und so trafen sich auch am 25. September 1910 Sozialisten und Gewerkschafter zu einer Gedenkversammlung. Es sollen rund 10000 Teilnehmer gewesen sein, die dem erschossenen Arbeiterfunktionär Adolf Hermann gedenken wollten.

Zu ihnen gesellten sich rund 1000 Radfahrer und Radfahrerinnen aus sozialistischen Radfahrvereinen, zu denen Hermann gehörte. Radfahrvereine hatten sich rund um Berlin mitgliederträchtig gebildet.
Die Gedenkrede hielt der Reichstagsabgeordnete Arthur Stadthagen, der den Niederbarnim seit 1890 im Reichstag vertrat. „Gegen 2 Uhr nachmittags war der Saal bereits gefüllt. Eine Stunde später glich das Lokal und die Stolper Straße einem Heerlager“, wie der „Vorwärts“ am 27.9.1910 berichtete. Stadthagen, auf einer improvisierten Rednertribüne im Garten stehend, hielt eine kurze, aber ergreifende Ansprache. Dabei warf er der Staatsgewalt vor, den polizeilichen Todesschützen deshalb freigesprochen zu haben, weil sein Opfer Sozialdemokrat gewesen sei. Diese Einschätzung entsprach vollkommen den Erfahrungen der Arbeiterbewegung im Umgang mit der Justiz im Deutschen Reich.

Die Sozialdemokratie hatte zu Adolf Hermanns Gedächtnis einen Gedenkstein gestiftet, der jedoch auf Geheiß der preußischen Staatsmacht zu solchen Anlässen stets verhüllt wurde, was die heftige Entrüstung der Arbeiterbewegung auslöste. Arthur Stadthagen beschrieb den ermordeten Sozialisten als einen zuverlässigen und vorbildlichen Kämpfer für die Interessen der Arbeiterklasse, der sich stets „opferbereit und unverdrossen agitatorisch und organisatorisch für die Befreiung der Arbeiterklasse“ betätigt habe. Ihm zu Ehren brachten die Teilnehmer der Gedenkversammlung ein Hoch auf die Sozialdemokratie aus, beschlossen die Veranstaltung und begaben sich zum Friedhof; die Sozialisten aus Waidmannslust und Umgegend hatten in diesem Jahr den Kranz zum Gedächtnis gestiftet.
Um so größer muss die Überraschung gewesen sein, als die Besucher der Grabstätte nicht nur einen von den Behörden verhüllten Gedenkstein erblickten, sondern zusätzlich einen Holzkasten mit der Aufschrift „ Die verhüllte Wahrheit“ sahen, mit dem die Sozialdemokratie Niederbarnims diese behördliche Vertuschung in all ihrer Absurdität enthüllte.
Und so schloss der „Vorwärts“ seinen Bericht mit den auf den Holzkasten gemünzten Worten: „Ob diese Aufschrift ebenso wie der Holzkasten im Auftrage unserer Behörden angebracht worden ist? Wir wissen es nicht. Aber das wissen wir bestimmt, daß die Wahrheit trotz der Verhüllung eines Tages doch zum Siege gelangt.“

Holger Czitrich-Stahl (Glienicke)

 

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